"Die Schrammeln - Klassiker der Wiener Volksmusik"

Autor: Mag. Heinz Hromada, E-Mail: heinz.hromada@chello.at


  1. Vorwort
  2. Der Werdegang der Brüder Schrammel
    1. Musikalische Ausbildung
    2. Die Gründung des Terzetts
    3. Vom Terzett zum Quartett
    4. Die Schrammeln vor der Aristokratie
    5. Die Schrammeln vor Strauß, Brahms
      und den Wiener Philharmonikern
    6. Gastspiele im Ausland
    7. Der Zerfall des Quartetts
  3. Das Werk der Brüder Schrammel
  4. Die Pflege der Schrammelmusik in der Gegenwart
  5. Zusammenfassung
Historisches Foto des Quartetts der Brüder Schrammel (9326 Byte)

1. Vorwort

"Schrammelmusik" oder die "Schrammeln" - was versteht man heute darunter? Die häufigste Antwort darauf wäre sicherlich: Musikanten, die bei einem Wiener Heurigen von Tisch zu Tisch gehen, um dort mit Hilfe der Darbietung von Wunschmelodien die Gäste zu unterhalten. Doch hätten vor rund 110 Jahren die Brüder Schrammel auf diese Weise in ihrer nur siebenjährigen Wirkungszeit zu einer derartigen Berühmtheit gelangen können, daß sie zu Namensgebern typischer Wiener Volksmusik wurden und von Zeitgenossen wie Brahms oder Strauß überaus hoch geschätzt wurden? In den nachfolgenden Kapiteln soll das Bild der Brüder Schrammel, ihrer Kompositionen, ihrer Aufführungspraxis und ihres Klangstiles zurechtgerückt werden.


2. Der Werdegang der Brüder Schrammel

2.a. Musikalische Ausbildung

Die Brüder SCHRAMMEL, Johann (1850-1893) und Josef (1852-1895) wuchsen in der regen Volksmusikszene des damaligen Wiener Vergnügungsvorortes Neulerchenfeld auf. Ihre Eltern waren beide hauptberufliche Volksmusikanten - der Vater Kaspar war Klarinettist und die Mutter Aloisia Volkssängerin1. Sehr früh erkannte Kaspar Schrammel die hohe musikalische Begabung seiner beiden Söhne und schickte sie trotz finanzieller Entbehrungen - und was für einen damaligen Volksmusiker eine Ungeheuerlichkeit war - aufs Wiener Konservatorium, wo sie bei Joseph Hellmesberger einen hervorragenden Violinunterricht erhielten2. Danach gingen die Brüder zunächst getrennte Wege - Johann als Orchestermusiker in Wiener Salon- und Theaterorchestern, Josef als Volksmusiker in Gaststätten und Heurigen-Lokalen.


2.b. Die Gründung des Terzetts

Nach dem Börsekrach von 1873 sanken die Verdienstmöglichkeiten eines Orchestermusikers weit unter die eines Volksmusikers. Der Vorschlag Josefs an seinen Bruder Johann, mit ihm gemeinsam ein Volksmusikterzett zu gründen, fiel daher auf fruchtbaren Boden. Mailler3 erzählt zwar, Johann habe diesen Vorschlag seines Bruders vorerst mit den Worten zurückgewiesen: "Ein Heurigenmusikant - dazu hat mich der Vater nicht ins Konservatorium geschickt." Mag diese Episode vielleicht erfunden sein, treffend für ihn ist sie sicher. Johann beendete jedenfalls seine Orchesterlaufbahn und gründete mit seinem Bruder und dem Gitarristen Draskovits 1878 ein Terzett. 1879 wurde Draskovits durch den damals besten Gitarristen Anton Strohmayer4 (1848-1937) ersetzt. Dieser war der Sohn des damals sehr populären Volksmusikers Alois Strohmayer(1822-1890), der ein eigenes Ensemble leitete und schon vor den Brüdern Schrammel in der Besetzung mit hoher Klarinette, zwei Geigen und Kontra-Gitarre musizierte5.

Das Urschrammel-Terzett (24 KB)
Das Terzett der Brüder Schrammel mit Anton Strohmayer nannte sich zunächst "D'Nußdorfer", da es hauptsächlich in dem berühmten Weinort Nußdorf auftrat. Die Kombination von perfekter Spieltechnik mit im Volkstümlichen wurzelnder Musikalität bewirkte außerordentlichen Erfolg. Das Extrablatt vom 7. Oktober 1883 schreibt über einen Auftritt des Terzetts: "Der große, weite Saal ist bumvoll... Ein Surren und Brummen geht durch den weiten Raum... Der Lärm wird immer größer, man versteht sein eigenes Wort nicht mehr... Da wird mit einem Fiedelbogen auf den Resonanzboden einer Geige dreimal geklopft. Drei Zauberschläge. In einem Nu ist der Lärm verstummt, eine heilige Ruhe herrscht in dem Saal, der plötzlich in eine Kirche umgewandelt zu sein scheint und aller Augen sind nach dem Podium gerichtet, auf welchem drei Männer sitzen. Zwei legen den Bogen auf die Saiten, der dritte hat die Finger auf den dicken Leib der Gitarre gelegt, das sind die Schrammeln. Da gibt es keine Claque, keine bezahlten Applaus-Fabrikanten, keine befreundeten Stimmungs-Erzeuger, da gibt es nur Verehrer und - Fanatiker, die ernstlich bös werden können, wenn jemand während der Produktion mit dem Sessel rückt oder ein lautes Wort spricht. Und wir begreifen es. So süß, so innig, so rein im Ton spielt niemand die lieben Volksmelodien als diese drei Leute, es ist der anheimelnde Wiener Dialekt der in Noten gesetzt aus den 'Winseln' der Schrammel'schen Brüder und der 'Klampfen' Strohmayers zu uns spricht."


2.c. Vom Terzett zum Quartett

Zu den besten Geigern und dem besten Gitarristen der Wiener Volksmusik kam am 25. Oktober 1884 Georg Dänzer6 (1848-1893), der zu seiner Zeit beste Klarinettist und unbestrittene Meister des "picksüßen Hölzls", wie die kleine G-Klarinette liebevoll von den Wienern genannt wurde. Dänzer setzte die Spieltradition der damals bekannten Volksmusikanten Vinzenz Stelzmüller und Georg Bertl fort. Vor seinem Eintreten zu den "Schrammeln" hatte er, wie übrigens die Brüder Schrammel auch, gelegentlich im Ensemble Alois Strohmayers und diversen anderen Ensembles mitgewirkt.

Die regelmäßigen Produktionen des neuen Quartetts fanden dort statt, von wo der Erfolg des Terzetts seinen Ausgang genommen hatte: in Nußdorf. Die "Schrammeln", wie sie längst im Volksmund genannt wurden, wurden immer populärer. Das Publikum, das wegen ihnen zum "Heurigen" nach Nußdorf kam, kannte keine Standesunterschiede: ob Adeliger oder Deutschmeister, Hausherr oder Fiaker - beim "Heurigen" waren sie alle nur begeisterte Zuhörer der Schrammeln und der in ihrem Gefolge auftretenden Sänger, Jodler und Pfeifer. Neben ihren Heurigenauftritten gaben sie aber auch rein konzertante Darbietungen der "Alten Wiener Tanz" und spielten auf fast allen wichtigen Bällen, wie dem Lumpen-, dem Fiaker- oder dem Wäschermädlball.

Das Quartett der Brüder Schrammel (14 KB)
"Die Schrammeln haben es verstanden, sich den Wienern in das Herz zu geigen, wo sie erscheinen, da ist ihnen auch reichster Beifall gewiß ...", "Die Schrammeln gehen mit ihren Tönen, die sie ihren Instrumenten entlocken, direkt auf unser Herz los und lassen vergessen, daß es einen Zinstag, einen Schneider und sonstige Sorgen gibt" (11. Februar 1884). Berichterstatter und Kritiker beschrieben die Produktionen der Schrammeln in Superlativen. Hellhörigen Menschen fiel auf, daß eine Veränderung im volkstümlichen Musizieren Wiens eingetreten war. Im Wiener "Extrablatt" vom 18. August 1886 schrieb Julius von Als: "... Die Schrammeln haben, ganz abgesehen von ihrer Meisterschaft in der Behandlung der Instrumente, dadurch, daß sie allezeit nur Gutes boten und das Beste bieten wollen, veredelnd auf den Geschmack der großen Menge gewirkt und da sie bestimmend sind für die Menge von Sängern und Dudlern, so mußten auch diese, falls sie in der nutzbringenden Nähe der Schrammeln bleiben wollten, nothgedrungen auch Besseres leisten und so hat ganz unbewußt für Diejenigen, die mitthaten, aber zielbewußt von den Schrammeln inauguriert, das Volksvergnügen bessere, feinere Formen angenommen, es hat sich abgeschliffen und manche Rohheit ist verschwunden, ohne daß die Herzlichkeit, die Gemüthlichkeit und die Urwüchsigkeit gelitten hat. - Das ist und bleibt ein Verdienst der "Schrammeln" und auf die Gefahr hin, daß diese so bescheidenen und braven Leute auf einmal hochmüthig werden, muß man es offen sagen, daß der Name dieses Quartetts von heute an in der Geschichte Wiens für alle Zeiten genannt werden wird, wenn man von der Wiener Volksmusik spricht." Vor allem Johann Schrammel wurde immer mehr als Komponist zahlreicher Märsche, Walzer und Polkas bekannt und geschätzt. So wirkte er 1885 an einer Ballettproduktion des Wiener Hofoperntheaters über die Geschichte des "Wiener Walzers" mit und wurde auch für die Betreuung des Musikteils der neuen erscheinenden Zeitung "Wiener Spezialitäten" herangezogen7.


2.d. Die Schrammeln vor der Aristokratie

"Die Schrammeln, unsere Volksmusiker, spielen der Aristokratie auf", hieß es im Extrablatt am 9. Februar 1885; und das taten sie nicht nur bei den Fiaker- und Wäschermädelbällen, sondern sie wurden auch in die Salons der Adeligen geladen oder von ihnen in die vornehmsten Lokale wie z.B. zum Sacher zum "Aufspielen" bestellt. Sie musizierten nicht nur für die Aristokratie, Hanns Schrammel komponierte auch für sie. Vom 30. Mai 1885 ist ein sehr nettes Dankschreiben der Fürstin Eugenie Esterhazy erhalten, worin sie den ihr gewidmeten Eugenie-Walzer "mit größtem Vergnügen" annimmt8. Die Aristokratie nahm die Widmungen also nicht nur "huldvoll" an, sondern fühlte sich sogar sichtbar geschmeichelt. Unter den Widmungsträgern der Kompositionen Hanns Schrammel findet sich beinahe die gesamte Aristokratie der damaligen Zeit, als Beispiele seien genannt: Fürstin Pauline von Metternich ("Frühlingsgruß an Pauline", Polka mazur), Erzherzog Johann ("Meran-Marsch", in dessen Trio der Erzherzog Johann-Jodler zitiert wird), Kronprinz Rudolf ("Kronprinz Rudolf-Marsch"), der zum bedeutendsten Förderer der Schrammeln werden sollte9, und Kaiser Franz Joseph I. ("Alte österreichische Volksmelodien").


2.e. Die Schrammeln vor Strauß, Brahms und den Wiener Philharmonikern

Am 23. Jänner 1884 kam Johann Strauß nach Nußdorf, um die berühmten Schrammeln zu hören10. Ein Besuch des Walzerkönigs, des zu dieser Zeit weltbekannten und berühmtesten Vertreters der "Wiener Musik", war für sie eine ganz besondere Auszeichnung, denn Strauß besuchte nur selten Theater, Konzerte oder Opernvorstellungen, um, wie er sagte, in seinen Kompositionen nicht - vielleicht unbewußt - gehörte Melodien zu verwenden. Und die Schrammeln verfehlten auch bei ihm ihre Wirkung nicht: er blieb statt der geplanten einen Stunde sechs und schrieb an Josef Schrammel mit Datum 4. März 1884 folgenden Brief:

Brief von Joh. Strauß"Herrn Schrammel, Musikdirektor.

Erkläre hiemit mit Vergnügen und Überzeugung, daß die musikalische Leitung der Gesellschaft in der Ausführung und im Vortrag im wahren Sinn des Wortes von künstlerischer Bedeutung ist und Jedermann, der für die getreue musikalische Wiedergabe des Wiener Humors, der poetischen Eigentümlichkeit des Wiener Volksmusikgenres Sinn besitzt, auf das Wärmste zu empfehlen ist."

Die Schrammeln als Bremer Stadtmusikanten (11 KB)Die Schrammeln bedankten sich für diese Wertschätzung auf zweierlei Weise: sie widmeten Strauß das links abgebildete Foto, auf dem sie als Bremer Stadtmusikanten zu sehen sind, und Johann Schrammel schrieb für ihn seinen berühmten Walzer "Im Wiener Dialekt".


Auch Johannes Brahms schätzte die Schrammeln sehr11. Nach einem Brahms-Liederabend der damals berühmten Sängerin Alice Barbi besuchte Brahms mit dieser ein Konzert der Schrammeln, um ihr "die volkstümlichen Wiener Musiker und die typische Art ihres Spielens zu zeigen ...": "... Nachdem die Schrammeln mehrere Wiener Lieder und Tänze gespielt hatten, stimmten sie auch ein amerikanisches Lied an, das damals in Wien volkstümlich war: 'Ta-ra-ra-boom-de-ay'. Wurde die Silbe 'boom' gespielt, schlug man mit dem Spazierstock oder einem Bierglas auf dem Tisch den Takt dazu. An diesem Tag konnte ich sehen, daß auch Brahms voll überströmender Freude mit seinem Regenschirm den Takt schlug, wann immer das 'boom' ertönte. Ein Knabe mit einem grauen Bart."

Im Dezember 1886 lud Hans Richter, damals Hofkapellmeister und Dirigent der Wiener Philharmoniker, die Schrammeln ein, bei der Feier anläßlich seines 100. philharmonischen Konzerts vor dem Orchester aufzuspielen12: "... dort sollen Sie von den famosen Schrammeln die unvergleichlichen Lanner'schen Walzer vorzüglich aufgeführt hören. Besseres kann ich Ihnen nicht bieten..." (Brief Hans Richters an die Wiener Philharmoniker vom 16. Dezember 1886). Daß die Schrammeln vor dieser höchsten musikalischen Kritik bestehen konnten, ist eindeutiger Beweis für die Vollkommenheit ihres Vortrages. Und Hanns Schrammel bedankte sich für die freundliche Aufnahme ihrer Darbietung auf seine Weise: für die Wiener Philharmoniker komponierte er den Marsch "Wiener Künstler" und für Hans Richter den "Hans Richter-Marsch".


2.f. Gastspiele im Ausland

1888 gastierten die Schrammeln erstmals im Ausland, und zwar in Budapest und Preßburg13. Und auch dort feierten sie ihre mittlerweile gewohnten Erfolge. Bald traten sie ihre erste größere Auslandsreise an, und zwar nach Deutschland, wo sie in Berlin, Frankfurt, Stuttgart und abschließend in München konzertierten14. Die Münchner Neuesten Nachrichten schrieben unter dem Titel "Bei den 'Schrammeln' in Kil's Kolosseum": "...Mit vier Instrumenten wissen die Wiener Künstler einen Klang zu erzeugen, welcher die weiten Räume des Kolosseums aufs Vollkommendste ausfüllte, einen Klang von so volltönender Kraft und so eigenartigem Timbre, daß die Zuhörer schon nach dem ersten Takt verwundert aufhorchen unter dem Eindruck des Ungewöhnlichen. Und es ist alles ungewöhnlich bei diesem Wiener Quartett: Die Klangfarbe, der seelische Ausdruck der Musik, die Klarheit und Reinheit des Vortrags, die oft wundersame Exaktheit des Zusammenspiels und vor allem die rhythmischen Eigentümlichkeiten. Ein ewiger Wechsel von Zurückhalten und wieder Forteilen, ein fortwährender Wechsel der Tempi, der es geradezu rätselhaft erscheinen läßt, daß diese vier Künstler, ohne daß jemand den Taktstock führt, ja ohne daß einer zum andern nur aufsähe, so genau und glockenrein zusammenspielen. Sie geben Volksweisen zum besten, die zum Teil jeder schon gehört, ohne daß nur ein Ton empfindsamer an sein Ohr geschlagen - sie aber machen feine, herzergreifende Weisen daraus und das klingt und jauchzt und zittert und weint und trillert aus ihren Instrumenten heraus, daß man nur lauschen mag und immer lauschen. Welcher Wohlklang und welche Empfindung in ihrem 'Piano' und welche Kraft und Tonfülle, wenn sie heiter Melodien spielen! Und wie sie so einen Walzer zu schattieren wissen! Sie zerlegen die Weise förmlich, jeder Ton, jeder kleinste Reiz kommt zur Geltung und das Ganze behält doch seinen Charakter. Die Präzision und virtuose Sicherheit, mit welcher die beiden Geigen, Brüder Schrammel, spielen, kann nicht zu viel gerühmt werden, vollendet ist aber auch die Kunst der Klarinette ... Herr Dänzer weiß sie so zu spielen, daß sie kaum schärfer klingt als die Geige, sein 'Piano' ist geradezu wunderschön...". Auch für Strohmayer und den mit auftretenden Kunstpfeifer Baron Jean fand man lobende Worte. So ausführlich wie in diesem Zeitungsartikel wurden Aufführungspraxis und Klangstil der Schrammeln sonst nirgendwo geschildert.

Angeregt durch ihre großen Erfolge, traten die Schrammeln bereits Anfang 1889 ihre nächste große Auslandsreise an, die durch Deutschland und die südlichen österreichischen Kronländer führte15. Von der Rückkehr der Schrammeln nach Wien berichtete das Extrablatt am 27. März 1889: "Unser Musterquartett, die Gebrüder Schrammel, Dänzer und Strohmayer sind soeben von ihrer Reise nach dem Süden zurückgekehrt, an Ehren und materiellen Erfolgen gleich reich ..." Wieder in Wien, kehrten die Schrammeln wieder zum Heurigen nach Nußdorf zurück. Der Andrang zu ihren ersten Auftritten nach ihrer langen Abwesenheit von Wien war so groß, daß Hunderte Menschen umkehren mußten, weil sie keinen Platz finden konnten.

Im Herbst 1889 brach das Quartett zu seiner dritten und letzten großen Reise auf16. Sie dauerte drei Monate und führte nach Deutschland und in die heutige Tschechoslowakei. Große Probleme kennzeichneten den Beginn dieser Reise: die Organisation der Konzerte klappte nicht und Johann Schrammels Gesundheitszustand (er laborierte an einem Hämorrhoidenleiden) machte das Reisen für ihn nahezu unerträglich. Wieder zuhause in Wien, setzten sie ihre Auftritte in Nußdorf wieder fort.


2.g. Der Zerfall des Quartetts

1891 erkrankte Georg Dänzer und schied wahrscheinlich deswegen aus dem Quartett der Brüder Schrammel aus. Da kein gleichwertiger Ersatz gefunden werden konnte, wurde er durch den Ziehharmonikaspieler Anton Ernst, dem Vetter der Brüder Schrammel, ersetzt. Fast genau sieben Jahre waren es, die die Brüder Schrammel, Dänzer und Strohmayer miteinander musiziert hatten, und in dieser Zeit hatten sie Erfolge errungen wie kein Volksmusikensemble je vor ihnen oder zu ihrer Zeit. Mit dem Ersatz der Klarinette durch die Ziehharmonika erlosch das spezifische Klangbild des Quartetts; trotzdem hielt ihre Popularität vorerst ungehindert an. Ihre Auftritte während der Wiener internationalen Musik- und Theaterausstellung 1892 wurde zum ersten und zugleich einzigen Höhepunkt des Quartetts mit der Ziehharmonika17. Bald nach der Schließung der Musik- und Theaterausstellung verließ Anton Strohmayer das Quartett; an seine Stelle kam Karl Daroka. In dieser Zeit verschlechterte sich der Gesundheitszustandes Johann Schrammels und damit die schöpferische Kraft des Ensembles zusehends. Am 17. Juni 1893 starb Johann Schrammel im Alter von 43 Jahren unter großer Anteilnahme durch die Öffentlichkeit und die Presse. Anläßlich eines Nachrufes auf ihn schlägt das Wiener Tagblatt vom 18. Juni 1893 kritische Töne auf die damalige Volksmusikszene an: "...Es war in Wien guter Ton geworden, urwüchsiges Wienertum zu züchten und vorhandenes liebevoll zu pflegen. Damen und Herren der hohen Aristokratie besuchten jene primitiven Schänken in der Vororten, in welchen sich 'Kunstpfeifer', 'Natursänger', 'Jodler' und 'Jodlerinnen' hören ließen ...Die Wiener Volksmusikanten mußten sich mit diesen Pfeifern, Sängern und Jodlern assoziieren, wenn sie Zuspruch haben wollten und mit der Zeit traten naturgemäß die Musiker in den Hintergrund, bildeten sie bloß Staffage der Sänger und Kunstpfeifer. Es kam sogar zu Rechtsschwierigkeiten mit den konzessionierten Volkssängern, welche sich in ihrer Existenz bedroht sahen und in der Tat unter dieser Konkurrenz schwer zu leiden hatten. Mit diesem Zeitpunkt trat auch die Dekadenz der Wiener Musiker ein, sanken die 'Schrammeln'...und die vielen anderen Quartette einfach zu musikalischen Begleitern der singenden und pfeifenden Kutscher herab ..." Von diesem Pauschalurteil wurde jedoch Hanns Schrammel ausgenommen.

Nach dem Tod seines Bruders setzte Josef Schrammel mit dem Geiger Knoll an seines Bruders statt das Ensemble fort. Er konnte den Erfolg des früheren Quartetts mit Auftritten in Wien und im Rahmen einer Konzertreise noch fortsetzen. Als er am 24. November 1895 starb, war die ruhmreiche Wirkungszeit des Quartetts endgültig zu Ende.


3. Das Werk der Brüder Schrammel

Das Werk der Brüder Schrammel, von dem die Kompositionen Johanns einen Großteil einnehmen, umfaßt mehr als 250 Werke; Märsche, alle Arten von Polkas (schnell, francaise, mazur), Walzer, Tänze, Lieder und Couplets. Ob Instrumentalstücke, Tänze oder Lieder, ein wesentlicher Teil stellt Widmungen an Gönner und Freunde dar. Der höchste Widmungsträger war Kaiser Franz Joseph I, dem Johann Schrammel seine dreibändige Volksmusiksammlung "Alte österreichische Volksmelodien" widmete, und die allgemeinste Widmung hat Johann Schrammel seinem populärsten Marsch "Wien bleibt Wien" mitgegeben: "Den lieben Wienern hochachtungsvoll gewidmet" - August 1886. Die Kompositionen Hanns Schrammels wurden ob ihrer Beliebtheit von verschiedenen Verlagen in der Klavierfassung publiziert, wodurch sie der Nachwelt erhalten blieben.

Autograph von Joh. Schrammel (23 KB)
1963 entdeckte Prof. Lois Böck im Zuge seiner intensiven Nachforschungen im Kreis der Nachkommen der Schrammeln die bis dahin völlig unbeachtet gebliebenen Autographe der Brüder Schrammel, darunter zahlreiche wertvolle Kompositionen in Form vier fein säuberlich ausgeführter Einzelstimmen18. Aus diesem Material kann man folgende Satztechnik und den sich daraus ergebenden Klangstil ablesen: die Klarinette wird nicht als eigenständige Stimme, sondern als Klangregister zur ersten Geige eingesetzt. Sie vollzieht die Melodie in teilweise extrem hoher Lage (bis zum klingenden c4) im Einklang oder eine Oktave höher mit der ersten Geige mit. Die zweite Geige wird als Unterstimme oder als Gegenstimme geführt, wobei sie teilweise die Baß- oder auch Harmoniefunktion der Kontra-Gitarre (in Form teils schwieriger Doppelgriffe) unterstützt. Die Kontra-Gitarre legt das Baß-, Harmonie- und Rhythmusfundament.Autograph einer G-Klarinetten-Stimme von Johann Schrammel; bitte klicken Sie hier, wenn Sie das Bild größer sehen wollen
Besonders auffallend an der Satztechnik Johann Schrammels ist die sparsame Verwendung der Mehrstimmigkeit. Nur selten wird die Melodie in Terzen oder Sexten geführt und wann, dann ganz bewußt und dadurch mit um so größerer Wirkung. Diese Satztechnik bringt einen reizvollen, durchsichtigen Klang, der sehr an die Instrumentationstechnik der Brüder Strauß, wenn auch dort im großen Orchester, erinnert: die Funktion der hohen Holzbläser (besonders große und kleine Flöte), die auch hier meistens mit der ersten Geige geführt werden, wird im Quartett der Brüder Schrammel von der G-Klarinette übernommen.

Aus dieser Satztechnik Johann Schrammels ergeben sich in der Spielpraxis jedoch große Intonationsschwierigkeiten: durch die Parallelführung der Klarinette mit der ersten Geige muß einwandfreie Intonation zwischen den beiden gewährleistet sein, was für den Klarinettisten aufgrund der extrem hohen Lage und kurzen Mensur der G-Klarinette eine besonders schwierige Aufgabe darstellt.

4. Die Pflege der Schrammelmusik in der Gegenwart

Der Klangstil, mit dem das Quartett der Brüder Schrammel so berühmt geworden war, geriet nach dem Ausscheiden des Klarinettisten Dänzer schnell in Vergessenheit. Die anschließende Notlösung mit der Ziehharmonika wurde zum Anknüpfungspunkt für die vielen Nachfolgequartette, die sich alle als "Schrammeln" bezeichnen ließen und heute noch lassen. Die Kompositionen der Brüder Schrammel erschienen in Form vieler stilverfremdender Bearbeitungen, wurden und werden aber auch heute noch als authentisch angepriesen. Abgesehen vom "Klassischen Wiener Schrammelquartett" unter der Leitung des "Schrammelforschers" Prof. Lois Böck, welches in den 60er und 70er Jahren dieses Jahrhunderts bestand, und deren Nachfolgern, den 1983 gegründeten Wiener Thalia-Quartett, werden die Kompositionen kaum mehr in ihrem ursprünglichen Klangstil, also nach den erhaltenen Autographen, aufgeführt. Die Gründe für diesen merkwürdigen Umstand sind vielerlei: die Scheu vor dem heiklen Tonsatz Johann Schrammels, dessen Durchsichtigkeit für viele heute sehr ungewohnt klingen mag. Obwohl die Autographe zu einem Großteil veröffentlicht wurden, werden sie meistens ignoriert zugunsten der neueren, dichter gesetzten Arrangements. Es kursiert auch die Theorie, das Quartett der Brüder Schrammel hätte ihr eigenes Notenmaterial nur als "Gerüst" für eine improvisierende Aufführungspraxis verwendet. Durch die weitgehende Parallelführung der G-Klarinette zur ersten Geige würde man eine Stimme praktisch verschenken. Diese Meinung wird jedoch von Prof. Walter Deutsch, dem Leiter des Instituts für Volksmusikforschung an der Wiener Musikhochschule, nicht geteilt.


5. Zusammenfassung

Die "Schrammeln" bildeten am Ausgang des 19. Jahrhunderts den Höhepunkt der volkstümlichen Wiener Musik. Ihre besondere Begabung und meisterhafte Spieltechnik erhoben sie über alle anderen Ensembles der Stadt. Ihre nur siebenjährige Schaffensperiode reichte aus, um den Namen "Schrammel" zum Begriff einer eigenen Kategorie der volkstümlichen Musik Wiens werden zu lassen. Johann und Josef Schrammel hinterließen mehr als 250 Werke. Mit dem Tod der Brüder (1893 und 1895) geriet die besondere Klangfarbe des Quartetts in Vergessenheit, die erst 70 Jahre danach, 1964, aufgrund der Autographe vom "Klassischen Wiener Schrammelquartett" wiedererweckt wurde.


ANMERKUNGEN

  1. Egger, Die Schrammeln in ihrer Zeit, S. 29 ff.
  2. Ebenda, S. 52 ff.
  3. Mailler, Schrammel-Quartett,S. 60 f.
  4. Egger, a.a.O., S. 78 ff.
  5. Böck, Wiener Folkloristische Kammermusik des 19. Jahrhunderts, S. 6
  6. Egger, a.a.O., S. 99 ff.
  7. Ebenda, S. 117 ff.
  8. Ebenda, S. 122
  9. Ebenda, S. 174 ff
    Die Schrammeln wurden von Kronprinz Rudolf ins Schloß Orth an der Donau und nach Mayerling eingeladen, um dort für sie im Kreis höchster Adeliger aufzuspielen. In diesem Zusammenhang entstanden die Widmungskompositionen "Die Rose von Orth" und "Eljen à Stefanie" für die Kronprinzessin sowie der "Jagdabenteuer-Marsch" und der "Kronprinz Rudolf-Marsch" für Kronprinz Rudolf.
  10. Ebenda, S. 94 f.
  11. Ebenda, S. 269 f.
  12. Ebenda, S. 142 ff.
  13. Ebenda, S. 187 ff.
  14. Ebenda, S. 200 ff.
  15. Ebenda, S. 210 ff.
  16. Ebenda, S. 224 ff.
  17. Ebenda, S. 254 ff.
  18. Böck, Das Werk der Brüder Schrammel

LITERATURVERZEICHNIS

NOTENMATERIAL

Autographe der Brüder Schrammel:
Nicht mehr als einheitlicher Bestand erhalten, jedoch wichtigste Teile im Privatbesitz der Familie Schrammel und der Musiksammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek.

Teilweise Veröffentlichung der Autographe in:
Wiener Instrumentalmusik - Werkreihe für folkloristische Kammermusik, Hrsg. Lois Böck, Eberle-Verlag, 1010 Wien

SCHALLPLATTENVERZEICHNIS

Wiener Thalia-Quartett alias "Thalia-Schrammeln":

CD-Cover (5 KB)Music from old Vienna,
Naxos 8.550228
Aufgenommen im Dezember 1988
Totale Spieldauer: 58 min.

Cover "Music from Old Vienna II"Music from old Vienna II,
Schrammel Records CD 200025
Aufgenommen am 1. - 2. Mai 2000 in Wien
Gesamte Spieldauer: 60'54''

Klassisches Wiener Schrammelquartett:

Homepage